Projekt
Am Rande der Weltnaturschutzkonferenz im südkoreanischen Pyeongchang trafen im Oktober 2014 NABU-Präsident Olaf Tschimpke und der frühere DBV-Bundesgeschäftsführer Günter Mitlacher auf ein Glas Tee zusammen. Es dauerte nicht lange und sie schwelgten in gemeinsamen Erinnerungen: wie sie vor gut drei Jahrzehnten als hauptamtliche Mitarbeiter in den DBV eintraten, wie sie die politische Wende erlebten und wie aus dem DBV ein moderner Naturschutzverband wurde. Im Laufe des Gesprächs fiel der Satz: „Wir müssten unsere Erinnerungen einmal aufschreiben, bevor sie in Vergessenheit geraten“.
Einige Monate später hatte sich die „Man müsste einmal“-Idee zu einem konkreten Projekt entwickelt. Mit der Berliner Historikerin und Dokumentarfilmerin Marianne Kapfer an Ton und Kamera und der Bremer Umwelthistorikerin Dr. Anna-Katharina Wöbse als wissenschaftlicher Beraterin machte sich unter der Mitarbeit von Marc Süsser und der Leitung von Ralf Schulte ein kleines Team der NABU-Bundesgeschäftsstelle auf den Weg.
Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
Von der NABU-Geschichtsschreibung erwarten wir, dass der partnerschaftliche Weg zum gesamtdeutschen Naturschutzverband veranschaulicht wird. U. E. sollte die NABU-Geschichte die Leistungen der Naturschutzakteure beider deutscher Staaten auf Augenhöhe anerkennen und das erfreulich schnelle Zusammengehen der Naturschützenden in Ost und West sachlich darstellen.“
– Matthias Schrack, NABU Fachgruppe Ornithologie Großdittmansdorf, brfl. v. 17.11.2015
In 31 Zeitzeugen-Gesprächen entstanden im Laufe des Jahres 2016 mehr als 32 Stunden Film- und Tonmaterial. Die Interviewpartner in Ost und West waren: Rolf Bonkwald (Hamburg), Klaus Dürkop (Heiligenhafen), Jochen Flasbarth (Berlin), Drs. Rotraud und Helmut Gille (Schwedt), Ursula Glock-Menger (Osterode), Walter Gräf (Wildeck-Obersuhl), Dr. Christoph und Kaatz (Lohburg), Werner Kern (Landau), Heinz Kowalski (Bergneustadt), Albrecht Lorenz (Berlin), Beatrix Losem (Bonn), Hartmut Mai (Wetzlar), Hubertus Meckelmann (Potsdam), Reinhold Meixner (Bensheim-Zwingenberg), Günter Mitlacher (Rheinbach), Karl Hartmut Müller (Dresden), Heinz Nabrowsky (Berlin), Lutz Reißland (Allendorf), Klaus Schmidt (Barchfeld), Siegfried Schuch (Mainz), Dr. Holger Schulz (Bergenhusen), Dr. Hans-Jürgen Stork (Berlin), Alexandra und Detlef Stremke (Erfurt), Prof. Dr. Michael Succow (Wangerow), Thomas Tennhardt (Potsdam), Kai-Michael Thomsen (Bergenhusen), Christian Unselt (Bralitz), Dr. Dietrich von Knorre (Jena), Waldemar Wachtel (Garbsen), Petra Wassmann (Salzgitter), Hans-Jörg Wilke (Schwedt), Karin Zang (Oppenheim) sowie Waltraud und Helmut Zoels (Berlin).
Marianne Doblaski transkribierte die Interviews auf über 650 Textseiten.
An dieser Stelle sei allen Menschen ein ganz herzliches Dankeschön gesagt, die uns an ihren Erinnerungen teilhaben ließen, oder in anderer Weise zum Gelingen des Vorhabens beitrugen.
Das NABU-Archiv als Hüter der Erinnerungen
Die Stiftung Archiv, Forum und Museum zur Geschichte des Naturschutzes in Deutschland auf dem Drachenfels in Königswinter, die auch das NABU-Archiv führt, hat die Interviews in ihren Bestand übernommen und sichert sie für die Zukunft.
Es wird Historikerinnen und Historikern überlassen bleiben, die enorme Fülle des zusammengetragenen und dokumentierten Materials aufzuarbeiten. Sie werden dabei mit Quellen, Materialien und Erzählungen konfrontiert werden, die nicht immer ein einheitliches Bild ergeben; denn Erinnerung und Geschichte sind nicht statisch, sondern ein Prozess. Abläufe und Ereignisse werden unterschiedlich erinnert und sind nicht mehr mit absoluter Sicherheit zu rekonstruieren. In einer ersten Annäherung fasst die Umwelthistorikerin Dr. Anna-Katharina Wöbse die Erkenntnisse zusammen.
„Dieses Phänomen betrifft auch neuralgische Punkte, von denen man erwarten würde, dass sie sich ganz sicher in das gemeinsame Verbandsgedächtnis eingeprägt hätten. Zum Beispiel der Tag des Zusammengehens von Ost und West. Bei der Bundesvertreterversammlung werden in ‚Berlin (Ost)‘ am 17. November 1990 die neue Beziehung und der neue gesamtdeutsche Verband beschlossen und besiegelt. Ein großer Tag, sollte man meinen. Das Protokoll ist erhalten. Aber in den Interviews bleibt diese offizielle Vereinigung auffällig nebulös. Keiner scheint sich so ganz genau an die Debatten, Details oder Räumlichkeiten zu erinnern. War das Tempo der Veränderung in dem Jahr 1990 so groß, dass der offizielle Vorgang daneben zur Nebensache schrumpfte? Feierlich wurde eine Urkunde unterzeichnet, aber dieser Akt verblasst in der Erzählung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Vergleich zum aufgeregten Aufbruch und Wandel in diesen Wochen und Monaten. Vielleicht ist das kennzeichnend für eine Phase grundlegender Veränderung: Es war keine strategisch angeordnete Neuorientierung, sondern eine Entwicklung, die sich aus vielen ganz unterschiedlichen Erlebnisse, Handlungen und Begegnungen zusammensetzt: und aus dem ein facettenreiches Mosaik an Erinnerungen entstanden ist.“
Text: Dr. Anna-Katharina Wöbse. Umwelthistorikerin, Bremen.