Das Wende-Zeitzeugenprojekt des NABU

Den Anlass für die Spurensuche und visuelle Dokumentation von Erinnerungen gab ein Jubiläumsjahr: 2015 war ein Vierteljahrhundert vergangen, seit sich eine junge ostdeutsche Naturschutzorganisation der DDR mit dem etablierten Deutschen Bund für Vogelschutz zum Naturschutzbund NABU zusammen getan hatte. In dem hier vorgestellten Vorhaben wurden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen dieser “heißen Phase” des damals gerade im Entstehen begriffenen NABU und der deutsch-deutschen Naturschutzgeschichte befragt. Ihre O-Töne sollten als Quellen gespeichert, die Gespräche filmisch dokumentiert werden. Diese Medialität vermittelt eine eigene Anschaulichkeit, Originalität und Eindrücklichkeit, die schriftliche Quellen allein nicht ‚hergeben‘. Nun wird aus dem Material ein multimediales Dokument werden, auf das niedrigschwellig im Internet zugegriffen werden kann.

Kai-Michael Thomsen und Dr. Holger Schulz beleuchteten Westperspektive im Zusammenkommen der Weißstorchschützer (Foto: Schulte)
Das Ehepaar Kaatz aus Lobau berichte über die Startschwierigkeiten im deutsch-deutschen Weißstorchschutz (Foto: Kapfer)

Der Zeithorizont war relativ eng gesteckt. Die Interviews mit den Akteurinnen und Akteuren wurden im Sommer und Herbst 2015 geführt, ein erstes Ergebnis des Vorhabens im November 2015 in Dresden auf der Bundesdelegiertenversammlung präsentiert. Die Zeit drängte: Manche Beteiligten kommen in die Jahre, Erinnerungen und vergangene Wirklichkeiten verblassen und lösen sich aus einem alltäglichen Verständnis. Materielle Quellensicherung und historische Kontextualisierung sind Mittel, um die massiven Veränderungen und Dynamiken in den Naturschutzbeziehungen der 1990er-Jahre zu verstehen. Mit der Spurensicherung ging der NABU hinsichtlich seiner historischen Reflektion vorbildlich voran.

Deutsch-deutsche Naturschutz-Beziehungen

Es war eine bemerkenswerte Kooperation, die sich 1989/90 anbahnte. Zum einen war kaum ein anderer Verband bereit, den Namen eines Ostpartners zu übernehmen. Zum anderen bewegten sich hier zwei Akteure aufeinander zu, die trotz der 45 Jahre währenden Teilung durchaus einen gemeinsamen Ursprung hatten. Die Profile zeigten auffällige Schnittmengen. Das Selbstverständnis einer auf persönlichem Engagement fußenden lokal basierten Organisation war charakteristisch für die beteiligten Aktivistinnen und Aktivisten. Bezeichnenderweise konnte man auch, grub man nur tief genug, auch gemeinsame Wurzeln entdecken. Der 1899 von Lina Hähnle gegründete Bund für Vogelschutz, der sich bald zum größten und populärsten Naturschutzverband des Deutschen Reiches, der Weimarer Republik und schließlich im Nationalsozialismus zum einzig legitimierten Reichsbund für Vogelschutz entwickelte, hatte durch die Aufteilung in Besatzungszonen nach Kriegsende eine deutliche Zäsur erlebt. Für eine kurze Zeit – in Sachsen-Anhalt gar bis 1949 – waren einzelne Orts- und Landesgruppen in der sowjetischen Besatzungszone noch mit dem BfV verbunden. Der ehrenamtliche Naturschutz wurde aber schließlich in die Abteilung ‚Natur- und Heimatfreunde‘ des im Juli 1945 als Massenorganisation gegründeten Kulturbundes integriert. Eine wesentliche Schnittmenge als Identitätsbasis zwischen Akteuren beiderseits des Eisernen Vorhangs sollte allerdings bestehen bleiben: das Interesse an Ornithologie und ökologischer Feldforschung sowie die Arbeit für und in lokalen Schutzgebieten. Wenngleich es kaum systematische Zusammenarbeit gab, so waren durchaus einzelne Kontakte in Naturschutzfragen gerade auf fachwissenschaftlichem Gebiet zu verzeichnen. Während sich der Bund für Vogelschutz 1966 in den Deutschen Bund für Vogelschutz umbenannte, gingen die Naturschutzaktivisten, die im Kulturbund organisiert waren, 1980 in die Gesellschaft für Natur und Umwelt über, die nicht zuletzt den veränderten gesellschaftlichen Anspruch an das Themenfeld systemkonform und möglichst ohne politische Konfrontation kanalisieren sollte.

Wuchs durch die Prozesse von 1990 und die Entstehung des NABU tatsächlich einfach nur zusammen, was zusammengehörte? Diese Vermutung kann bezweifelt werden. Vielmehr sollte man in diesem Fall von einer sehr spezifischen Gemengelage ausgehen, die keineswegs zu der Lesart einer direkten Übernahme und der Installierung von BRD-Konzepten passen muss. Auch die etablierte Meistererzählung der Ost-West-Historiografie einer stetigen Systemkonkurrenz zwischen den beiden deutschen Staaten bricht auf dieser zivilgesellschaftlichen Ebene auf und wird in diesem Fall eher durch kooperative Beziehungen jenseits der gegensätzlichen Pole der beiden politischen Systeme erweitert. Ziel des Projektes war nicht zuletzt, diese unterschiedlichen Gemengelagen in der Wendezeit auszuloten und persönliche Erinnerungen in eine größere NABU- und Naturschutzgeschichte einfließen zu lassen. Zudem könnten die aufbereiteten Dokumente Ausgangslage für deutsch-deutsche Geschichtsforschungen zur Zivilgesellschaftlichkeit bieten und eine perspektivische Erweiterung der deutschen Umweltgeschichtsschreibung eröffnen.

Forschungsstand

Zurzeit ist eine ‚Renaissance‘ der DDR-Forschung zu bemerken. Vielleicht ist die ‚Wende‘ inzwischen genügend weit abgerückt: Eine Generation hat sich zwischen das Damals und Jetzt geschoben, es findet eine neue Historisierung statt. Dazu gehört beispielsweise auch ein wieder wachsendes Interesse an einer Umweltgeschichte der DDR, die mit den oft stereotypen Interpretationen eines gescheiterten Systems und dessen zerstörerischem Zugriff auf Natur wesentlich differenzierter umzugehen weiß.

Die Forschungslage zur Geschichte des amtlichen als auch ehrenamtlichen Naturschutzes sowohl in der DDR als auch in der BRD ist inzwischen verhältnismäßig gut, die wissenschaftliche Basis für eine weiterführende Erkundung also vorhanden. Für die Geschichte des Naturschutzes in der DDR ist vor allem im Studienarchiv Umweltgeschichte des Instituts für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung seit 1991 eine profunde Forschung betrieben worden, die sich in zahlreichen Publikationen niedergeschlagen hat. Für unseren Kontext ist vor allem das 2013 erschienene Buch “Naturschutzgeschichte(n) – Lebenswege zwischen Ostseeküste und Erzgebirge” zu nennen, das programmatisch auch mit ZeitzeugInnen-Interviews gearbeitet und eine vorbildliche Dokumentation vorgelegt hat. Eine wichtige Quelle sind dabei die auf der Internetseite des IUGR publizierten Interviews mit Akteuren der DDR-Naturschutzbewegung. Eine vergleichbare systematische Aufarbeitung existiert für die BRD der Vorwendezeit noch nicht, gleichwohl sind die fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen auch hier inzwischen sehr zahlreich.

In dem vorliegenden Projekt wurde der Fokus auf die Erinnerung auf den konkreten Prozess der Annäherung zu legen. Die Jahre kurz vor und nach 1989 sind als Kontaktzone zu verstehen, in denen sich die Akteure mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen aufeinander zu bewegten. Auf diesen Annäherungen, Begegnungen und Aushandlungen basierte die weitere Entwicklung hin zu einer der heute wichtigsten Natur- und Umweltschutzorganisationen Deutschlands. Es handelt sich um einen historisch neuralgischen Punkt von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Verbandes.

Von zentraler Bedeutung war es, im ersten Schritt eine breite Streuung der Befragten zu gewährleisten und nicht eine Geschichte von oben zu erzählen – also eine Geschichte, die nur der langfristig institutionalisierten Macht und verbandsinternen Hierarchien folgt. Die Dynamik dieser Zeit bedingte, dass viele Menschen involviert waren, aber sich daraus noch keineswegs ein stabiles Konstrukt entwickelte. Viele Phänomene der Wendezeit fallen inzwischen dem Vergessen anheim, hatten aber für die Naturschutzgeschichte eine Bedeutung wie beispielsweise die Chancen aber auch Enttäuschungen, die sich aus der neuen Personalpolitik durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eröffneten. Hier wurde streckenweise eine Welle der Professionalisierung ausgelöst, die in der Wendezeit den Naturschutz als neuen Arbeitgeber auswies, dieses Versprechen aber auf Dauer natürlich nicht halten konnte. Auch die finanziellen Mittel, die durch die Aufbauprogramme zur Verfügung gestellt wurden, ermöglichten den Aufbau von Infrastrukturen im Naturschutz, die aber langfristig nicht aufrecht zu erhalten waren.

Akteure und Setting

Die Auswahl der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen war der wichtigste erste Schritt, um die Vielgestaltigkeit der Erfahrungen und Erinnerungen abzubilden. Diese Vielgestaltigkeit bezog sich auf Hierarchie, Vernetzung, Ort, Raum, Zeit, Geschlecht, Projekte etc. Die Naturschutzgeschichte weist bisher einen starken Hang auf, Geschichte von oben zu schreiben – hier bestand die Chance, das Muster zu durchbrechen. Zu beachten war bei der Auswahl der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zudem, dass diese Menschen über spezifische Erinnerungsspeicher verfügen – die Fragestellungen reichten über die unmittelbare Wendezeit hinaus, um die Langfristigkeit von Geschehnissen richtig einzuordnen. Der Zeitraum, der für das Vorhaben der Spurensicherung in einem ersten Schritt relevant ist, erstreckt sich von etwa 1987, als sich die Beziehungen und Kontakte zwischen den Akteuren in Ost- und Westdeutschland zu verdichten beginnen, bis in die Anfangsjahre der 1990er-Jahre. Diesen Zeitraum genauer auszuleuchten scheint notwendig, um den Vorhof der Beziehungen und die Dynamik der Wendezeit besser zu verstehen. Vor allem wird erst in diesem Kontext klar, warum, wo und wie sich bestimmte Knotenpunkte bei den Beziehungen entwickelten und welche Impulse von diesen Epizentren ausgingen.

Die Akteure wurden, wenn möglich, an einem ‚erinnerungsreichen Ort‘ interviewt. Das hat sowohl dokumentarische als auch erinnerungsbedingte Gründe. Eine der spezifischen Stärken des NABU sind seine Ortsbezogenheit und lokalen Identitäten. Auch in der Wendezeiten spielten Orte und Räume eine besondere Rolle – ob es sich um die Teichlandschaften, Truppenübungsplätze, das Haus der Natur in Bad Freienwalde oder das Gosen als Epizentren der Vernetzung handelt – sie haben als Erinnerungsorte eine besondere Bedeutung, die mit dokumentiert wurden. Hinzu kam, dass bei den Akteuren vor Ort oft Dokumente und Zeugnisse vorhanden sind, die für die Authenzität der historischen Erfahrung relevant sind und zumindest für die weitere Archivierung kursorisch dokumentiert werden könnten.

Synopse ersten Beobachtungen und Ergebnissen des Erinnerungsprojektes „Wendezeit“

Klaus Dürkop – 1990 als DBV-Präsident im Amt (Foto: Schulte)

Im Zeitraum von Juli 2015 bis November 2015 wurden über 40 Interviews zu Fragen der ‚Wendezeit‘ und der Entstehung des NABU geführt und die Gespräche von der Filmemacherin Marianne Kapfer medial dokumentiert. Zu den spannendsten Aspekten der transkribierten Gespräche gehört, dass die Bandbreite der Interviewten die sehr diverse Mitgliederzusammensetzung des Naturschutzbundes widerspiegelt. Daraus ergab sich auch eine heterogene und vielfältige Mischung an Erinnerungen, Erfahrungen und Sichtweisen. Zentrale Akteure wie Markus Rösler, Michael Succow oder Jochen Flasbarth, die 1989/1990 quasi im Herzen der Naturschutz- und Verbandspolitik unterwegs waren, sind ebenso befragt worden wie ehrenamtliche Mitglieder in Ost und West. So ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kaleidoskop der Erinnerungen entstanden, das je nachdem, wie man es hält, eine spezifische Sicht auf die Ereignisse in den Wendejahren zulässt. Durch niedrigschwellige Befragungen, einer Art ‚open mic‘ anlässlich der Bundesvertreterversammlung in Dresden im November 2015, wurden Erinnerungen eingefangen, die in ihrer Gesamtheit eine zwar NABU-interne und dennoch multiperspektivische Annäherung hinsichtlich der Verbandshierarchie als auch der Ost- und Westsicht auf den Vereinigungsprozess ermöglichen. Diese Erinnerungen für zukünftige Forschung zu dokumentieren und zu sichern, gehört zu den Hauptanliegen des Projektes.

Prof. Dr. Michael Succow – eine Schlüsselfigur im Verbandsnaturschutz der Wendejahre (Foto: Kapfer)

Ebenso vielfältig und facettenreich sind die Themen, die in den Gesprächen aufscheinen. Sie umfassen sowohl politische, strukturelle und historische Analysen als auch Aspekte der Alltagsgeschichte und biografischer Erzählungen. Das macht die Erinnerungen auch zu einem Fundus für die allgemeine deutsche Geschichte dieser ‚Epoche‘.

In einer kurzen Synopse mit historischem Schwerpunkt sollen hier erste Erkenntnisse der Dokumentation skizziert und Potentiale für weitere Forschung und Analyse hinsichtlich des Quellenmaterials benannt werden. Das Material ist so reich an bemerkenswerten Hinweisen und Erkenntnissen, dass es hier weniger um eine erschöpfende Analyse des Materials geht oder darum entsprechend alle Aspekte in diesem Text zu behandeln. Vielmehr sollen in der Folge am Beispiel von einigen thematischen Schwerpunkten auf grundlegende oder bemerkenswerte Entwicklungen in dieser bisweilen unübersichtlichen und beschleunigten Zeit hingewiesen werden um schließlich noch auf das spezifische historische Potential der Erinnerungssammlung zu skizzieren. Die Skizzen basieren auf den ‚O-Tönen‘ aus den transkribierten Interviews.

Erinnerungen und Beschleunigung

Staatsekretär Jochen Flasbarth erinnerte sich an die Wendejahre

Erinnerungen sind bisweilen ein unwägbares Gut. Momentaufnahmen ordnen sich oft im Nachhinein in sinngebende Erzählungen, sie werden in Narrative eingebettet. Auch im Fall der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die wir zur Geschichte der sogenannten Wendezeit befragt haben, sind die Auskünfte zwangsläufig ex post in einen Zeitstrom eingeordnet. Gleichzeitig ist ein wiederkehrendes Moment in den Erzählungen, dass man 1989/1990 den Verlauf der Ereignisse, die Richtung der Entwicklung nicht hatte absehen können, oder wie Jochen Flasbarth treffend beschreibt: „Es gab vor allem […] überhaupt keine klare Vorstellung von der Zukunft.“ (Flasbarth, 5:47 )

Diese temporäre Unübersichtlichkeit sowohl in den politischen Verhältnissen als auch in den privaten Lebensläufen findet sich als zentrales Phänomen in fast allen Interviews. Während sich in einigen Gesprächen mit ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürger eine gewisse Ahnung eines schwankenden Systems abzeichnete, schien das in der BRD – vor allem bei den jüngeren Akteuren – kaum vorstellbar: „Die Vorstellung, das geht jetzt in einen schnellen Vereinigungsprozess und erfordert auch ganz schnelle Strukturen, die war noch nicht da.“ (Flasbarth, 5:47)

Ein sich durch nahezu alle Gespräche hindurch ziehender narrativer Faden ist das rasende Tempo der Veränderungen auf allen Erfahrungsebenen, das entsprechend der Umwälzungen des Alltages die DDR Bürgerinnen und Bürger noch wesentlich stärker und umfassender betraf als die der BRD. Das Bild der Atemlosigkeit und des Überschlagens der Ereignisse prägen hier die Erzählungen, oder wie Albrecht Lorenz die Situation wenige Monate nach ‚der Wende‘ anschaulich darstellt: „… es war klar, dass man jetzt in einem mehr oder weniger rechtsfreien Raum lebte. Jeder und jeder preschte vor und jeder, ich meine auch, die Industrie preschte vor und jeder preschte vor und wollte der Erste sein.“ (Lorenz, 20:09)

Hubertus Meckelmann und Christian Unselt schilderten ihre Erlebnisse bei der Rettung der Militärflächen (Foto: Schulte)

Es war eine Situation, auf die man sich ohne jegliche Erfahrungswerte einstellen musste und in der man sich in einer Phase andauernder Veränderungen auch immer wieder Überblick und Orientierung verschaffen musste. Hubertus Meckelmann beschrieb konkret, wie sich das im Alltag auswirkte: „…man durfte … nicht einen einzigen Tag krank sein, dann war man raus. Dann wusste man nicht mehr: Wohin geht die Reise …? Das hat sich ja ständig geändert. Die Beratungen haben sich überschlagen.“ (Meckelmann/Unselt, 13:13) Daraus eine lineare Erzählung und ein Verlaufsprotokoll zu machen, ist kaum möglich, da sich die Ereignisse, Kontakte, Strategien fortlaufend überlagerten, sich kreuzten und gleichzeitig völlig unabhängig voneinander verliefen. Aus dem Rückblick erscheinen Findungsprozesse undurchsichtig und viele Entscheidung ad hoc und intransparent. Aber das entsprach durchaus der Lebenswirklichkeit oder wie beispielsweise den sehr kurzen Weg zur Namensfindung beschrieb: „…insgesamt war die Zeit ja so schnelllebig, dass man ja sich wirklich keine Zeit lassen konnte für solche Diskussionen“. (Unselt/Nabrowksy31:21) In den Gesprächen spiegelt sich also eine vielschichtige und zum Teil durchaus widersprüchliche Entwicklung: In den wenigen Monaten des akuten Umbruchs bildet sich so etwas wie ein Kondensat der Veränderungen ab.

Blühende Verbandslandschaften – nichtstaatliche Akteure in der Wendezeit

Das Ostberliner Ehepaar Zoels erinnerte sich an die Naturschutz-Wende in Berlin (Foto: Schulte)

Wie bereits geschildert war keineswegs klar, wie sich der Naturschutz im Allgemeinen und seine (zivil)gesellschaftliche Rolle im Besonderen in diesen turbulenten Zeiten entwickeln und formatieren würde. Auch dass ein großer deutsch-deutscher Verein daraus entstehen könnte, war nicht abzusehen. Die Situation für die in der DDR meist im Kulturbund organisierten Naturschützerinnen und Naturschützer war keineswegs klar. Es gab ganz unterschiedliche Bewegungen. Die Dynamik der Veränderungen war dabei innerhalb der ostdeutschen Naturschutzszene durchaus unterschiedlich: Ein Teil der Aktiven sah keinen besonderen Grund, sich überhaupt neu aufzustellen. Als Heinz Nabrowsky unmittelbar nach dem Mauerfall in der DDR in einer Artenschutzgruppe für neue Organisationsformen wirbt, macht er beispielsweise auch folgende Beobachtung: „…dann saßen viele von den Multiplikatoren noch da und die haben mich so komisch angeguckt: Was will denn der eigentlich? Wir haben doch den Kulturbund, wieso sollten wir etwas ändern? Ich bin doch Kreisnaturschutzbeauftragter – warum soll ich hier irgendetwas anderes machen?“ (Nabrowksy/ Unselt, 37:42). Die DDR hatte bekanntermaßen über ein gut etabliertes und engmaschiges Naturschutzsystem verfügt, das im Kulturbund organisiert war. Schließlich waren viele Menschen zunächst mit den allgemeinen Veränderungen und dem radikalen Wandel der Verhältnisse beschäftigt, wie Waltraud Zoels sagt: „Außerdem … war dermaßen viel, was auf uns einstürmte, dass also … die Natur wirklich erst mal in den Hintergrund getreten ist…“ (Waltraud Zoels, 1:36).

Gleichzeitig gab es aber auch viele im Naturschutz Aktive, die sofort begannen, sich sowohl mit Informationen über ökologische Debatten einzudecken als auch in Fragen von konkreter Naturschutzorganisation in Kenntnis zu setzen. Sie schwärmten aus und suchten nach Quellen, um sich nicht nur über Natur- sondern auch explizit zu aktuellen Umwelt- und Ökologiedebatten zu informieren. Und der DVB gehörte zu diesen Informationsquellen, die nach dem Mauerfall bald zur Verfügung standen. Albrecht Lorenz erinnert sich an das „massenweise Verschicken von Zeugs“ in Richtung der noch existierenden DDR – das Zeugs waren in diesem Fall aktuelles oder weniger aktuelles Informationsmaterial: „Hauptsache, dass die Leute erst mal einen Eindruck bekamen von, sagen wir mal, westlicher Naturschutzarbeit“ (Lorenz/Rösler, 2:15).

Schwedter Naturschutzbund-Aktive der ersten Stunde – Jörg Wilke und Dr. Rotraud Gille (Foto: Schulte)

Die Naturschutzszene in der DDR war dabei eben trotz der vermeintlichen Uniformität im Kulturbund ausgesprochen heterogen. Für ihre Vielgestaltigkeit steht beispielweise Rotraud Gille, die sich mit ihrem Mann gleichermaßen für klassischen Artenschutz als auch für die deutlich politischere Stadtökologiebewegung in der DDR eingesetzt hatte. Für sie war der Kulturbund ein beengender und bevormundender Rahmen gewesen, dem sie nach der Wende umgehend den Rücken kehrte und sich nach neuen Organisations- und Aktionsmöglichkeiten umschaute. (Gille 29:57) Die Maueröffnung setzte eine drängende Suchbewegung nach Optionen und Gestaltungsräumen in Gang.

Die erste Großveranstaltung zum Thema Naturschutz bot das deutsch-deutsche Umwelttreffen, eine Veranstaltung des Deutschen Naturschutzringes DNR Ende Januar 1990. In den Erzählungen wird der Eindruck eines summenden Bienenschwarmes erweckt, wie Hans-Jörg Wilke aus Schwedt erinnert: „Das war eine Riesenveranstaltung, hunderte Naturschützer, die Räume haben nicht gereicht, 22 Arbeitsgruppen. Das war also ein Riesenauflauf, der sich da zusammenfand. Und man hatte auch so ein warmes Gefühl, wenn so viele Gleichgesinnte da aufeinander treffen, war das ziemlich spannend und ziemlich schön.“ (Wilke, 3:37)

Dabei lastete auf vielen Akteuren der Druck, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Vereinzelt hatte es durchaus Kontakte über die innerdeutsche Grenze hinweg gegeben. Vor allem in der ornithologischen Szene waren Schriftentausch oder eine fachliche Kommunikation auf internationalen Tagungen im beschränkten Maß möglich. Eine Struktur der deutsch-deutschen Beziehungen auf Ebene des verbandlichen Naturschutzes war aber quasi nicht existent. Das Risiko, von westdeutschen Organisationen vereinnahmt zu werden, war offenkundig gegeben. Die verschiedenen Naturschutzrichtungen begannen bald, sich auszudifferenzieren. Und die westdeutschen Organisationen wurden sehr wohl gewahr, dass sich hier hinsichtlich zukünftiger Mitgliederstrukturen ein großes Potential auftat. Die neu gegründete Grüne Liga als progressives Umweltforum mit Bürgerrechtsbewusstsein bot einen unabhängigen Pfad an, der am ehesten mit der politischen Orientierung des BUND korrespondierte. Im Vergleich sammelte sich im Kulturbund eher konservativere und spezialisierte Akteure und Gruppen, die aber als ostdeutsches Format durchaus auch eine Zukunft in der GNU, der Gesellschaft für Natur und Umwelt hätten finden und gestalten können. In den Gesprächen wird diese Entscheidungsphase als durchaus turbulent erinnert.

Gleichzeitig begannen auch die westdeutschen Verbände, die Situation der zukünftigen Naturschutzlandschaft zu sondieren und suchten gleichfalls nach Tandempartnern oder offerierten ihre Konzepte und Organisationen. Hubertus Meckelmann erinnert sich „zum Beispiel an die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, die haben uns ja auch stark umworben.“ (Meckelmann, 20:29)

Die Lesarten dieser Suchbewegungen differieren, aber „entscheidend war dann,“ so erinnert sich beispielsweise Jochen Flasbarth, „in der Übergangsphase sozusagen den richtigen Partner zu finden, nämlich mit dem Naturschutzbund der DDR“. (Flasbarth, 23:08)

Die Schnittmenge zwischen den spezialisierten Gruppen und dem DBV war nicht zuletzt das Interesse an und die Passion für Naturkunde als Fundament für den Naturschutz. Das konnte eine solide Basis darstellen: „Wir waren auch diejenigen, die sich in ihrem Natur- und Umweltengagement ganz häufig aus der Ornithologie, aus der Naturkunde entwickelt hatten. Und das war für … die Insektenschützer und Fischschützer und Botaniker … kein großer Schritt zur Zusammenarbeit. Und umgekehrt war es für den DBV auch keine große Revolution, mit solchen Leuten zusammenzugehen.“ (Flasbarth, 26:23)

Auch für Michael Succow, der als letzter stellvertretender Umweltminister der DDR einen enormen Einfluss auf die Naturschutzpolitik in dieser Umbruchzeit hatte und zu einer zentralen Identifikationsfigur für die Dynamik des ostdeutschen Naturschutzes geworden war, wurde von den Verbänden umworben: sowohl der WWF als auch der DBV – über den „Türöffner“ Markus Rösler – wollten Succow gern für ihre Arbeit gewinnen. Auch für Succow scheint entscheidend gewesen zu sein, dass der DBV sagte „Ja, wir wollen diese fachliche Arbeit stärken. Wir wollen diese Strukturen, Eure Fachausschüsse…übernehmen“. (Succow/Rösler, 54:00)

Identitätskrise

Der neue Verbandsname, Naturschutzbund Deutschland, ist das Synonym für eine bemerkenswerte Gemengelage. Einerseits basierte die Organisation, die sich nun formierte und statuierte, auf traditionellen Strängen, die sowohl in Ost- als auch Westdeutschland angelegt worden waren. Die Entwicklung der Naturschutzarbeit im Kulturbund der DDR wurde ebenso eingespeist wie die Vogelschutzarbeit des Deutschen Bundes für Vogelschutz. Gleichzeitig ergriffen aber auch diejenigen die Chance, die der Namenswechsel bot, die seit geraumer Zeit für eine Reformierung des traditionellen DBV kämpften. Der Wortbestandteil „Naturschutz“ war dabei gesetzt, um –bund oder –verband indes wurde durchaus gerungen. Die westdeutschen Verbandsakteure sahen dabei vor allem die Gefahr, dadurch zu dicht an den seit den frühen 1970er-Jahren etablierten BUND heranzurücken. Schnell schien klar, dass ein prägnantes Kürzel geschaffen werden musste – dabei wurde der NABU nicht nur als Abkürzung für Naturschutzbund gelesen, sondern in der verbandlichen Kommunikation durchaus noch breiter aufgeladen, wie sich Petra Wassmann erinnert: „…man könnte auch die einzelnen Buchstaben als Programm betrachten: N für Naturschutz, A für Artenschutz, B für Biotopschutz und U für Umweltschutz.“ (Wassmann, 12:16)

Gleichzeitig fiel es aber den DBV Mitglieder teilweise extrem schwer, sich von ihrem Selbstverständnis als Vogelschützer zu lösen – gerade den ornithologischen Schwerpunkt aufzubrechen und unter einem deutlich breiteren Banner zu laufen: „Und man kann das auch gut verstehen, weil ein Stück Historie abzustreifen ist nicht so einfach. Und was Neues anzuziehen war für viele Leute eine schwierige Aktion“. (Mitlacher 19:49)

Eine wesentliche Voraussetzung für die Neuaufstellung, das Zusammengehen von DDR- und Naturschützern und die Umbenennung des vormaligen DBV in Naturschutzbund Deutschland war aus Sicht der befragten BRD-Akteure die schon seit geraumer Zeit anstehende Reformierung und Modernisierung des Verbandes. Besonders aus der Naturschutzjugend wuchs im Lauf der 1980er-Jahren der Druck auf das Präsidium, den DBV in einer sich wandelnden Natur- und Umweltschutzszene neu aufzustellen und zu positionieren. Eine schon lange angeregte Umbenennung hätte als Kennung der Neuaufstellung dienen sollen. Allerdings gestalteten sich die Diskurse zwischen konservativen und reformorientieren Gruppen eher zäh, oder wie Günther Mitlacher es ausdrückt: „…ich kann mich an Diskussionen erinnern, wo man schon gedacht hat: Der Verband kriegt das nie geregelt, sich vom Vogelschutz zum Naturschutz zu bekennen.“ (Mitlacher 7:02)

Die bestehenden Ansätze eines inhaltlichen Wandels wurden durch die radikal veränderten politischen Verhältnisse extrem beschleunigt. Die Ereignisse trieben den westdeutschen Verband vor sich her.

Hardware: Infrastruktur und Finanzen

Von zentraler Bedeutung für den Aufbau erster Kontaktzonen und Kommunikationsmöglichkeiten war die Einrichtung von Büros wie das in Höhenschönhausen oder in Gosen, die sich tatsächlich zu Räumen der Begegnung und des Austausches entwickelten. In den Erinnerungen besonders der ostdeutschen Akteure spielt der Aufbau einer technischen Infrastruktur eine wesentliche Rolle. Dabei traten in den Gesprächen bestimmte Gegenstände als markante Erinnerungsobjekte auf: „Die blauen Busse“ (Ford Transit), die über Gut Sunder verschiedenen Gruppen zur Verfügung gestellt wurden, gehören dabei zu den oft genannten Objekten ebenso wie Computer, Kopierer und Fax, die dabei stellvertretend für die Vernetzung und Professionalisierung der Naturschutzakteure verstanden wurden. Ein Materialfluss von Büroausstattungen und Büromaterial aber auch Instrumenten des praktischen Naturschutzes strömte bald von West nach Ost – wie beispielsweise Motorsägen oder Rasenmäher. (Mitlacher 46:29)

Die Finanzierung der technischen Ausstattung basierte zum einen auf Spenden, die der DBV mit gezielten Aufrufen einwarb (Losem: 43:53), zum anderen aber auch auf staatlichen Mitteln. Aus politikgeschichtlicher Sicht zeigt sich hier auch, wie der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen von Staatsseite gezielt unterstützt wurde, als beispielweise 700.000 DM Bundesmittel für den „Aufbau der Landesverbände und der Geschäftsstellen mit entsprechender Infrastruktur.“

Die technische und organisatorische Strukturhilfe sollte für ein rasches Funktionieren sorgen – ein Status, den man im Westen erst über Jahre aufgebaut hatte.

Nach dem offiziellen Zusammenschluss galt es, schnell eine funktionierende Verbandsinfrastruktur zu schaffen. Das hatte für den vormaligen DBV auch zur Folge, dass die Architektur der Geschäftsstelle in Bonn neu formatiert wurde. Im Zuge des Zusammengehens musste sichergestellt werden, dass auch das Auftreten und Erscheinungsbild einheitlicher würde. Auch hier erschien der dadurch angestoßene Prozess besonders für die Modernisierung des DBV relevant. Zum einen handelte es sich um einen bürokratischen Ablauf, der tatsächlich von oben nach unten erfolgte und dabei der Formierung der stellenweise eher als divers wahrgenommenen Gruppenstrukturen auf Landes- und Kreisebene diente. „…diese Gelegenheit, ein einheitliches Erscheinungsbild in der Gesamtorganisation mit durchzusetzen mit dem neuen Namen und einer Neukreierung des Logos, also der Storch blieb ja als Symbol, das war ja sozusagen das historische Vermächtnis.“ (Mitlacher 21:28)

Nicht nur musste jede Gruppe die Namensänderung auch in ihrer Satzung verankern, es ging auch durchaus darum, solche alltäglichen Dinge wie Briefpapier und Broschüren auf ein gemeinschaftliches Auftreten hin auszutauschen.

Eine erste Zwischenbilanz

Zieht man aus historischer Sicht aus der Lektüre der Transkripte ein erstes und selbstverständlich vorläufiges Fazit, waren die Wendejahre eine extrem ereignisreiche und beschleunigte Epoche in der Entwicklung des NABU. Es boten sich Chancen für die Neufindung, Neuerfindung und Neuformatierung traditioneller Naturschutzbeziehungen in Ost und West. Die ostdeutschen Akteure speisten ein ungemein großes Fachwissen und damit die wissenschaftliche Fundierung des NABU in en deutsch-deutschen Verband ein. Der vormalige DBV seinerseits bot seine Infrastruktur und sein Organisationsmodell an, das auf der Stärke der Gruppen und Landesverbände basiert. Der alte Vogelschutzbund nutzte einerseits die Chance zur Reformierung überkommener Strukturen, andererseits, um sich in einer gesamtdeutschen Szene neu und deutlich stärker als zuvor nicht nur gesellschaftlich, sondern auch politisch zu positionieren. Mittelfristig sollte sich sein öffentliches Profil deutlich schärfen, und ein ungeahntes Wachstum hinsichtlich von Mitgliederzahlen aber auch hinsichtlich des Einflusses auf Flächenmanagement, einsetzen.

Potential und Desiderat

Der Naturschutzbund/DBV war für die Verflechtung von ost- und westdeutschen Naturschutznetzwerken von entscheidender Bedeutung. Der DBV nutzte diese Situation selbst für eine Neustrukturierung und Neuorientierung. Gleichzeitig ergaben sich bei dem ‚Umbau‘ der Republik völlig neuartige Situationen und Chancen, auch politisch Einfluss zu nehmen. Aus historischer Perspektive sind die 1990er-Jahre für den NABU konstitutiv und stilbildend. Es handelt sich dabei allerdings auch um eine Phase, in der sich alle vier großen Natur- und Umweltschutzorganisationen (NABU, BUND; Greenpeace und WWF) neu konfigurierten. Verständlich werden die genuinen Entwicklungen des NABU erst vor einer Folie der gesamthistorischen Prozesse der Wendezeit. Hier liegt auch das zukünftige wissenschaftliche Potential des Projektes, das über eine reine Dokumentation von Zeitzeugengesprächen weit hinausweisen könnte. Mit einer solchen Einbettung und einer qualitativen Auswertung der Interviews eröffnen sich neue Perspektiven für die Historiografie des NABU als auch für die deutsche Umweltgeschichte.

Vor allem könnte eine “Alltagsgeschichte” des gesamtdeutschen Naturschutzes in einer sich rasant beschleunigenden Phase beschrieben werden können – eine Perspektive, die bisher vernachlässigt worden ist. Als Desiderat kann gleichwohl die spezifische Begegnung und der Zusammenschluss von Aktiven auf den beiden Seiten der innderdeutschen Grenze zum Naturschutzbund Deutschland gelten. Die Eckdaten und ein grober historischer Rahmen sind in der NABU-Chronologie gut dargestellt. Aber eine kontextualisierende Erzählung liegt noch nicht vor. Dabei könnte eine solche Bestandsaufnahme einen wichtigen Beitrag zum Verständnis einer deutschen “Wiedervereinigung” auf sehr unterschiedlichen Ebenen liefern. Wie sich sowohl in den Darstellungen und den Quellensammlung von Hans-Jürgen Stork als auch in den Unterlagen des Austausches zwischen der NABU Gruppe Niesky und Bensheim bereits plastisch und vielleicht sogar paradigmatisch abzeichnet, entstand auch auf lokaler Ebene eine fast selbstverständliche Solidarität zwischen den Akteuren in Ost und West. Auf beiden Seiten herrschten Euphorie und Aufbruchsstimmung. Die ostdeutschen Gruppen waren angetan von den zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten und neuen Dimensionen des Mitspracherechts und politischen Einflussnahme. Die westdeutschen Partner zeigten sich ihrerseits beeindruckt von den Landschaften, Naturschätzen und der Artenvielfalt, die in der ehemaligen DDR noch zu finden waren, aber auch von dem Fachwissen und der Expertise der fremden Nachbarn. Gleichzeitig setzte der sogenannte Aufbau-Ost die Naturschutzakteure auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze in einen enorm erhöhten Zugzwang, um der Beschleunigung des Naturverbrauchs durch Infrastruktur- und Modernisierungsmaßnahmen eine Stimme und eine politische Strategie entgegensetzen zu können.

Für eine langfristigere Forschung ist eine Codierung der Interviews zu empfehlen, die mit einer Verschlagwortung spezifischerer Themen und Aspekte der Geschichte einen schnellen und systematischen Zugriff auf das Material erlauben würde. Das hier entstandene Konvolut an visuellen und verschriftlichten Quellen böte sich idealtypisch für eine beziehungsweise mehrere Masterarbeiten an, die entweder im Bereich der Kulturwissenschaften oder der Geschichtswissenschaften anzusiedeln wäre. Angesichts der inhaltlichen Heterogenität wäre die Voraussetzung für eine stringente Aufarbeitung eine klare Strukturierung der zu behandelnden Fragen. Einige der potentiellen Themenbereiche, die hier noch nicht näher beleuchtet wurden, seien abschließend genannt:

Professionalisierung – Naturschutz als Beruf: Durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erfolgte in Ostdeutschland eine bis dahin unbekannte Professionalisierung des zuvor hauptsächlich ehrenamtlich getragenen Naturschutzes. Gleichzeitig waren die Ansprüche an organisatorische Infrastrukturen innerhalb des Verbandes so groß wie vermutlich nie zuvor. Damit ging auch die Vermittlung von Kenntnissen der zivilgesellschaftlichen aber auch naturschutzrechtlichen Organisation einher. Schließlich wurden der Verband in Flächenschutzprogramme und ökologische Infrastrukturprogramme eingebunden, die ihn vor enorme Herausforderungen stellten. Die Vereinigung führte den NABU auf einen Expansionspfad.

Alltag der Vereinigung – In fast allen Interviews erhält man Einblick in den Alltag des Vereinigungsprozesses. Geborstene Windschutzscheiben, Vervielfältigungstechniken, Verständigungsschwierigkeiten – all das scheint in den Gesprächen auf, sind aber im kollektiven Gedächtnis sehr verblasst. Gerade diese Alltagsgeschichte macht die Einzigartigkeit der Phase so fassbar – und nachvollziehbar.

Fläche – Die deutsch-deutsche Vereinigung hatte gravierende Auswirkungen auf die Landschaftspolitik in Ostdeutschland – und reichte von den erfolgreichen Nationalparkausweisungen bis zum Flächenverbrauch im großen Stil durch Inverstoren oder Straßenbau. Dieses Spannungsfeld zwischen Gewinn und Verlust aus Sicht der NABU-Akteure zu analysieren, wäre nicht zuletzt für eine Landschaftsgeschichte der jüngeren BRD von großem Interesse.

Schlüsselfiguren – In dem nun aufgelaufenen Material bildet sich die Rolle und der Einfluss einzelner Personen ab. Bezeichnend für die NABU-Geschichte ist, dass sich der Kreis von ‚Schlüsselfiguren‘ nicht auf ‚ranghohe‘ Personen aus Präsidium oder Geschäftsstelle beschränkt, sondern sie auf nahezu allen Ebenen durchdekliniert werden könnten.

Biografien– Die Interviews geben zum Teil tiefen Einblick nicht nur in die biografischen Entwicklungen der Akteure, sondern zeigen auch die tiefen Erschütterungen und Irritationen, die bisweilen mit der Wendezeit verbunden waren. Gerade Arbeitslosigkeit oder die Konfrontationen mit der bundesdeutschen Übernahmerealität, der radikale Umbau der Gesellschaft oder die Auswirkungen der Treuhand- und Wirtschaftspolitik in den Flächen spiegeln sich deutlich als Brüche in den Erzählungen wider – und damit auch entscheidende Lebenserfahrungen einer Naturschutzgeneration.

Text: Dr. Anna-Katharina Wöbse, Umwelthistorikerin.

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